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- 2. Eier
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5
- Aus P. Scheerbarts
Entwicklungsroman "Die wilde Jagd" (1900)
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- EIER!
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- Das wogte hin und her und schien los zu wollen und schien
nicht los zu können.
»Das ist das alte Lied des Lebens - es kann sich alles
nich loslösen von dem anderen - und es paßt alles
nicht zusammen.«
So sprachen die Geister, während sie immer tiefer in den
Nebeln der Welt versanken - in den Nebeln, die hin und her wogten
und nicht fortkonnten.
Und während die Geister glaubten, wieder im Unergründlichen
zu sein, zog alle Freude von ihnen fort.
Und es bildete sich eine harte Kruste um ihr ganze Wesen.
Und diese Kruste ward den Geistern sichtbar - aber sie konnten
durch die Kruste durchsehen wie durch Glas.
Und es berührte die Geister nichts mehr; das ganz Durcheinander
der Weltnebel ward ihnen zum Bilderspiel; die Glaskruste ließ
nichts näher an die Geiste ran.
Mittlerweile wölbte sich eine jede Glaskruste und erhielt
die Form von großen Eiern.
Als das die Geister bemerkten, sagten sie seufzend: »Na
ja, nun dachten wir schon, bald mal Götter zu werden - und
nun sind wir wieder bloß die reinen Eier. Aller Anfang
ist schwer. Aber daß der Anfang immer wiederkehrt, ist
noch schwerer zu ertragen.«
Müde bewegten sich die Nebelschleier.
Die Geister in ihrer Verkapselung sanken tiefer und stürzten
in ein großes Meer. Es staken grade zehntausend Geister
in den Glaseiern nicht mehr.
Jetzt wirbeln die Wassermassen durcheinander - wie Viehherden,
in die der Blitz schlug.
Und die zehntausend gehen unter in den aufgeregten Wassermassen
und glauben, daß jetzt bald alles vorbei sein wird - das
ganze lange Leben.
Aber die eiförmigen Glaskrusten halten auch das Wasser von
den Geistern ab, daß sie ruhig weiterleben können,
obschon sie sich nicht bewegen können - wie Gelähmte.
Die zehntausend bleiben leben, doch sie haben keine Freude am
Lebenbleiben.
Die Glaseier sinken in ein helleres Wasserreich, in dem bandwurmlange
dickköpfige Schlammschlangen umherschwimmen; die Schlangenkörper
sind stellenweise von topasartig leuchtenden Gewändern umgeben,
die sich zierlich aufbauschen und sich anschmiegen in gewundenen
knittrigen Faltengebilden an die Schlangenhaut.
Die Faltengebilde, die knotenartig an vielen Stellen des Schlangenleibes
haften, leuchten wie Topase, hinter denen Licht ist.
Die zehntausend wissen nicht mehr, ob sie steigen oder sinken.
Knipo, jener Geist, der nie recht weiß, ob er sich ärgert
oder sich freut, befindet sich ebenfalls in einem Glasei.
Die Geister bemerken es schmerzlich, daß sie sich nicht
bewegen können - die Glaskruste ist so fest - und schließt
jetzt auch den Mund.
Verworrene dumpfe Töne dringen durchs Wasser - als kämen
sie aus weiter Ferne.
Die Glaseier schwimmen so ruhig wie hohle Steine - die Schlammschlangen
bleiben ziemlich weit ab - zu denen gesellen sich glatte Seestiere
mit dicken gelben Augen und dicken gelben Entenfüßen;
die Seestiere werden aber scheu und gehen auf die Schlangen wütend
los und zerreißen mit ihren hakigen Hörnern die leuchtenden
Topasgewänder, daß die Fetzen nur so rumwirbeln.
Und Flundermänner bliesen dazu auf großen Panzerschnecken
einen Parademarsch, der den Geistern sehr gedämpft und klimprig
klang. Die Flundermänner hatten ganz lange steife Hälse
und braune Würfelköpfe und Flunderleiber, die so schlapp
wackelten wie faule Fische; die Würfelköpfe sahen dagegen
so fieberhaft erregt aus, daß sie Angst einflößten.
Und umgestülpte graue Töpfe schwammen herzu; in den
Töpfen staken am Schwanz festgebundene Aale; die Aale verursachten
gleichsam als Klöppel einen dumpfen Glockenlärm, der
die Nervosität ins Bestialische steigern konnte; mancher
Topf ging durch einen Aalkopf entzwei, und die geborstenen Topftöne
machten den gedämpften Glockenlärm so unheimlich wie
blutbefleckte Leichen.
Und alte Priester fielen samt jungen Soldaten zwischen die kämpfenden
Stiere und Schlangen, die gleich Platz machten; viele Töpfe
wurden dadurch heftig zur Seite gegen die Flundermänner
geschleudert, daß vielen von diesen der steife Hals durchbrach;
viele braune Würfelköpfe sanken mit ihren Panzerschnecken
am Munde rasch in die Tiefe.
Und stille Seesterne kreisten um die Soldaten und die Priester
rum. Und die Seesterne machten einen so friedlichen Eindruck.
Knipo sagte: »Die Seesterne sind gut!«
Doch seine Stimme war nicht zu hören; die Glaskruste ließ
die Geisterstimme nicht mehr durch, obwohl der greuliche Topflärm
und das klimprige Trompeten der Flundermänner noch als dumpfe
Radaumusik von den Geisterohren empfunden wurde.
»Was soll das?« fragten sich die Geister fortwährend
- sie wurden ganz wirr im Kopf; es hob sich die Feierlichkeit
der Priester so merkwürdig von dem trivialen Getue der Soldaten
ab, und die stillen Seesterne bewahrten eine so unnatürliche
Ruhe vor den grauen Töpfen.
Die Flundermänner bliesen unauflhörlich ihre zimperliche
Marschmelodie, nach deren Takt die Schlangen und Stiere kämpften
- so pausenlos, daß es einfach blödsinnig wirkte;
daß die Töne nur gedämpft von den Geisterohren
aufgenommen wurden, machte ihnen das wirre Lebensbild nicht sanfter.
Und die Fetzen der Topasgewänder leuchteten dazu, daß
auf dem wüsten Gedränge ein durchdringender Glanz bebte,
der so angriff - wie der Glanz gestorbener Träume, wenn
er sich vermischt mit dem Glanz wahnsinniger Rauschgebilde, die
so alt sind.
Die Glaseier warfen den Glanz heftig zurück, daß von
den Geistern ein Licht ausging - wie von trunknen Todeswonnen.
Und dieser Glanz und dieses Licht krallte sich in diesen großen
Wirrwarr mit Gespensterfingern so schmerzhaft tief hinein.
Bildschöne Kinder mit widerlichen gelben Weibermasken im
Arme sanken auch in die glänzenden Wassermassen; jedes Kind
sah so lustig aus wie ein Reiterleben.
Und ganz feine lange Säulen, die ziseliert und durchbrochene
Arbeit waren, schwammen oben wie ein großer Heringsschwarm
vorüber; fette Kröten krochen auf den Säulen auf
und ab im gleichmäßigen langsamen Kriecherschritt.
Jede Säule war anders als die nächste und oft so köstlich
wie ein flinkes Pferd.
»Was soll das?« fragten sich die Geister, während
sie mit den Achseln zucken wollten.
Und große langsam sich bewegende Strudel entstanden die
alles umeinander wirbelten und auch die lichtsprühenden
Glaseier ergriffen und hineinzerrten in den seltsam glänzenden
Wirrwarr, den keiner verstand.
Doch trotz allem Regelhohn bewegte sich alles so, daß die
Geister weltferne Rhythmen zu fühlen glaubten.
Und Nixen sprangen plötzlich in das glanzumwirbelte Strudelreich.
Und die Nixen bewegten sich wie schlanke Tänzerinnen - und
es zuckte so viel Spott durch ihre Bewegungen, die nur so leise
an Tänze erinnerten.
Ihre Finger ahmten den Takt nach, in dem die Schlangen mit den
Stieren kämpften, und die langen flossigen Fischbeine der
Nixen bewegten sich, wie sich die Aale in den Töpfen bewegten.
Und die anderen Bewegungsspiele in den Strudeln versuchten die
Nixen ebenfalls nachzuahmen.
Und die Geister verstanden das Getue der Nixen nicht im mindesten.
Und die Geister konnten nicht fragen; das Eiglas verschloß
ihnen den Mund.
Indessen - nun senkte sich in die Geister eine neue Neigung:
sie wollten unwillkürlich tun, was die Nixen taten - - auch
wie diese die Bewegungen, die sich in den gemächlich kreisenden
Glanzstrudeln entfalteten, nachahmen.
Das ging nun zwar nicht - des Eiglases wegen - dafür ging
jedoch was andres: sie konnten das Strudelreich, das jetzt nur
noch ganz langsam kreiste, allmählich ein bißchen
verstehen; es bewegte sich der ganze Krempel so wundervoll.
Und die Nixen lachten und sprachen, daß es dumpf hallte
- wie in fernen Kellergewölben: »Ihr lacht Euch scheckig,
wenn Ihr den ganzen verworrenen Hexensabbat des Lebens nur als
Bewegungsspiel nehmt. Es macht irrsinnig, wenn man alles für
tiefsinnig halten möchte. Das Tiefsinnige muß sich
doch immer, um als solches zu gelten, aus einer Fülle von
Flachsinnigem herausheben können. Darum laßt das Tiefsinnige
seitwärts stehen und nehmt zunächst mal alles bloß
als Bewegungsspiel, so werdet Ihr die Welt besser begreifen als
bisher.«
Knipo wurde sehr ärgerlich.
» Hier baumelt ein Rettungsanker für die Flachköpfe!«
Also wollte er rufen, leider vermochte er nicht, sich hörbar
zu machen.
Die Worte der Nixen, die sich jetzt ins dunkle Wasser zurückzogen,
wirkten aber nach, und viele Geister gaben zu, daß das
Reich der sinnverwaltenden Vernünftigkeit immer nur klein
sein dürfte, denn wenn's überall zu sehen und zu haben
wäre, so wär's doch gleich was Gewöhnliches.
»Das Gewöhnliche muß aber grundsätzlich
vermieden werden!« sagten sie eifrig.
Und die Wassermassen wurden ruhig.
Und nun zog der Glanz fort aus dem ruhigen Wasserreich - und
der Wirrwarr darinnen wurde grau und farblos - und die Gestalten
schrumpften zusammen und sahen elend und ärmlich aus, obgleich
sie sich im ganzen genommen lebhafter bewegten als bisher.
Und abermals erschienen die Nixen.
Und abermals ahmten die Nixen das Bewegungsspiel der Schlangen,
Stiere, Soldaten, Aale und Priester - Töpfe, Seesterne,
Flundermänner, Kinder, Säulen und Kröten nach.
Und die Geister verstanden das Nixenspiel; sie empfanden als
richtig, daß auch der Reichtum an Glanz und Farbe nicht
als solcher fühlbar werden könnte, wenn er überall
zu sehen und zu haben wäre - und daß das Bewegungsspiel
farbloser Massen nicht weniger reizend wirke - wie das der farbenreichen
und glanzvollen.
»Im Farblosen«, wollte Knipo sagen, »wirken
die Bewegungen als solche noch viel mehr.«
Und die Geister bedauerten, daß sie sich nicht so bewegen
konnten wie die Nixen.
Die Geister hatten sich aber allmählich an den durchgerührten
Lebenspunsch mit seinem Wirrsal gewöhnt und schwammen ganz
munter drinnen herum.
»Man muß sich an die Welt nur gewöhnen - nur
gewöhnen - und nicht immer höhnen.«
Diese Worte hätten sie gerne laut ausgesprochen.
Sie merkten aber währenddem, daß allmählich alles
so recht schmutzig wurde - so recht unanständig - gemein
und ekelhaft.
Trotzdem blieb das Bewegungsspiel so reizvoll wie bisher. Die
Nixen riefen - in gedämpften Baßtönen: »Ja
- ja - das Anständige muß auch seinen Hintergrund
haben, sonst wird es gewöhnlich.«
Knipo fand, daß die Verworrenheit einen ganz neuen Reiz
durch die schmutzigen Elemente erhielt; er hätte so gerne
gesagt:
»Glaubt doch den Nixen nicht ein einziges Wort! Die Geschichte
wird tatsächlich immer köstlicher, obgleich sie schmutziger
wird. Der Schmutz macht ja das Bewegungsspiel so schrecklich
reich, er braucht wirklich nicht entschuldigt zu werden.«
Die Nixen wurden nun leider so scheußlich schmutzig - so
voll Schlamm und Unrat -, daß sie - scheinbar aus Scham
- wieder im dunklen Wasser verschwanden.
Und die Geister bemerkten über sich ein helles weißes
Licht.
Und sie kamen an die Oberfläche des Meeres - obgleich sie
geglaubt hatten, daß sie immer tiefer runterkämen.
Das Meer war so weiß, als wäre weiße Kreide
drin aufge löst.
Und der alte Himmel war gelb wie frische Butter.
Und die Geister stiegen in den Himmel empor wie Luftballons.
Und die Glaseier lösten sich oben auf und fielen tropfend
in das Kreidemeer hinein - das Kreidemeer zischte. Und die zehntausend
konnten sich wieder bewegen und atmeten auf.
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-
- Crazy
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5
- Benjamin
Lebert: Crazy (Auszug aus dem 9 Kapitel) (1999)
- [...]
- »Kommt ihr vom Schloß?« fragt der Alte.
Seine Stimme ist tief und kräftig. Die Jungs drehen sich
um. Kugli ergreift als erster das Wort.
»Ja«, antwortet er. »Wir haben Ausgang.«
Die Augen des Alten ziehen sich zusammen. Sie schimmern hell.
Der Alte preßt die Lippen aufeinander.
»Führt einen alten Mann nicht hinters Licht«,
sagt er. »Ein alter Mann ist vielleicht taub. Vielleicht
blind. Vielleicht ein Krüppel. Aber ein alter Mann hat schon
zu oft das Lied des Lebens gesungen, als daß man ihn hinters
Licht führen sollte. Ihr habt keinen Ausgang. Habe ich recht?
Ihr haut ab.«
»Abhauen?« fragt Kugli. »Och, so was aber auch.«
»Das Lied des Lebens?« fragt Janosch. »Was
soll das denn sein?«
»Die unverkennbaren Dinge des Menschendaseins«, erwidert
der Alte. »Das, was man nicht verstecken kann: Trauer,
Freude, Wind.«
»Was hat denn der Wind damit zu tun?« frage ich.
»Der Wind, der Trauer und Freude miteinander vermischt«,
antwortet der Alte. »Der, wenn nötig, alles auseinanderreißt.
Oder zusammenbringt. Wie immer du es nennst.«
»Sind Sie so etwas wie ein Weiser oder ein Seher?«
fragt der dünne Felix.
Der Alte lacht. Das Lachen klingt wie eine heranrollende Dampfwalze.
Gewaltsam bahnt es sich seinen Weg. Die Jungs schauen verstohlen
umher. Ich setze mich.
»Ich bin kein Seher«, antwortet der Alte. »Und,
soweit ich weiß, bin ich auch nicht weise. Ich bin nur
ein alter Mann. Und ich habe das Leben gesehen. Das genügt,
um seinen Senf dazuzugeben.«
»Werden wir auch mal so?« fragt Kugli. »Wie?«
will der Alte wissen.
»Na ja. So ... alt ... eben.«
»Alt wirst du bestimmt, mein Junge. So ist das Leben. Alles
an dir wird alt: Deine Seele, dein Herz, deine Ansichten. Auch
wenn du dich vielleicht so schnell nicht änderst - deine
Ansichten tun es bestimmt. Und deine Träume auch. Irgendwann
sind sie alt. Genauso wie du!«
»Aber wenn sie alt sind - sind sie dann noch gut?«
fragt Kugli. »Warum müssen die Träume denn alt
werden?«
»Um Leben zu hinterlassen«, antwortet der Mann.
»Um Leben zu hinterlassen?« wiederholt Kugli. »Das
verstehe ich nicht. Muß man denn etwas Altes hinterlassen,
um etwas Neues zu bekommen?«
»Ich schätze schon«, antwortet der Alte. »So
bleibt alles in Bewegung.«
»Aber kann es denn nicht mal stillstehen?« fragt
Kugli. »Warum laufen wir eigentlich immer weiter? Wir könnten
genauso gut stehenbleiben. Verschnaufen. Das Erreichte gemütlich
betrachten.«
»Nein, das könnten wir nicht«, antwortet der
Alte. »Aber wieso nicht?« fragt der dicke Felix.
»Weil sonst alles stehenbleiben müßte«,
antwortet der Alte. »Um das Erreichte gemütlich zu
betrachten, müßten sowohl wir als auch das Erreichte
selbst stehenbleiben. Und wenn wir stehen, kann es nie mehr etwas
neues Erreichtes geben. Es wäre ein ewiges Stehen. Mein
Junge, mal ehrlich: Was wäre dir lieber? Ein ewiges Stehen
oder ein ewiges Laufen?«
»Sie haben gerade das Lied des Lebens gesungen, nicht wahr?«
fragt Kugli. »Wird es ein jeder mal singen, wenn er alt
geworden ist?«
»Das kommt darauf an«, erwidert der Alte. »Ob
man alt wird oder nicht, entscheidet der Zufall. Und ob man das
Lied des Lebens singt oder nicht, entscheidet der liebe Gott.
So einfach ist das.«
»Das nennen Sie einfach?« fragt der dicke Felix.
»Das ist alles viel zu kompliziert. Ich glaube, ich will
weder alt werden, noch will ich das Lied des Lebens singen. Eigentlich
ist es viel einfacher, in einer Welt zu leben, die man nicht
versteht. Ich will nicht alt werden. Alt werden ist zu crazy
für mich. Da bleibe ich lieber ich selbst. Felix Braun.
Sechzehn Jahre alt. 1,64 m groß. Basta.«
- [...]
5
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