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Gyula Grosics (r.) und Jeno Buzanszky

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Grosics: "Waren überzeugt, die WM zu gewinnen"

 

[Aufgaben zu dem Text]

 

"Dass es gerade im Finale passierte, hat uns niemand verziehen", beschreibt der damalige Torwart der Ungarn, Gyula Grosics, die 2:3-Niederlage gegen Deutschland beim "Wunder von Bern". Die Spuren trage er bis heute.

 

Der 4. Juli 1954 ist als "Wunder von Bern" in die deutsche Fußball-Geschichte eingegangen, die Helden von damals werden bis heute gefeiert. In Ungarn wird dagegen noch heute der verpassten Chance nachgetrauert. Auch der damalige Torhüter der Ungarn, Gyula Grosics, trägt "die Spuren und die Folgen dieser 13 Monate bis heute", wie er in einem Interview bekennt.

"Herr Grosics, sind Sie am Morgen des 4. Juli 1954 in Ihrem Hotel aufgewacht mit dem Gefühl: Heute werden wir Weltmeister?"

 

Gyula Grosics: "Ich habe nicht besonders gut geschlafen. In der Nacht vor dem Endspiel gab es vor unserem Hotel (Anm.: Hotel Krone in Solothurn) ein Volksfest, das sehr lange gedauert hat. Aber abgesehen davon haben wir nicht daran gedacht, dass wir an diesem Tag das bedeutendste Spiel des ungarischen Fußballs verlieren könnten. Seelisch waren wir auch nicht darauf vorbereitet, dass so etwas passiert, insbesondere nach dem vorangegangenen 8:3 waren wir davon überzeugt , dass wir die WM gewinnen werden."

"Die Stimmung war also gut?"

Grosics: "Die Stimmung war wie gewöhnlich. Es gab ein ernstes Problem, das wir erst nachträglich realisieren konnten, und das war, dass wir uns hauptsächlich seelisch nicht auf das Finale vorbereitet haben."

"Haben Sie sich nach den Siegen über Brasilien und Titelverteidiger Uruguay im Viertel- und im Halbfinale zu sicher gefühlt, vielleicht überschätzt?"

Grosics: "Wenn wir uns nicht überschätzt haben, so ist die Mannschaft dadurch bequemer geworden. Und dann fühlten wir im Finale nach dem 2:0, dass dieses Spiel bereits gewonnen ist. Dadurch wurde unser Spiel lockerer und gemütlicher. Nach dem Ausgleich kam unser krampfhafter Versuch, das zu ändern, aber dieser Versuch brachte nicht den Erfolg, den wir erwarteten."

 "Spielten die Deutschen denn anders als von Ihnen erwartet?"

Grosics: "Unsere Erkenntnisse über das Spiel der Deutschen stammten aus dem 8:3. Im Finale bemerkten wir schnell, dass die Aufstellung geändert worden war. Das war ein genialer Schachzug von Herberger. Ich vermute, dass er uns mit dem ersten Spiel in die Irre führen wollte. Wir mussten nach dem 2:0 allerdings auch die absolut positive Einstellung des deutschen Fußballs erkennen. Unabhängig vom Ergebnis spielen die Deutschen von der ersten bis zur letzten Minute mit vollem Einsatz und geben nie auf."

"Wie haben Sie die Niederlage verkraftet?"

Grosics: "Nach der Niederlage haben wir schreckliche Stunden erlebt. In der Umkleidekabine hat schon nach der ersten Halbzeit keiner von uns gesprochen. Aber es wurde noch schlimmer. Alle saßen in sich zusammengefallen da. Manche Spieler haben sogar geweint. In diesen Momenten war uns noch gar nicht bewusst, was eigentlich passiert ist."

"Nach dem Finale fuhr die Mannschaft nicht nach Budapest, sondern wurde zunächst in der Provinz versteckt, warum?"

Grosics: "Der konkrete politische Grund war, dass nach dem Spiel eine Demonstration in Budapest stattfand (Anm.: Gegen die Regierung). Die Regierung befürchtete, dass die dort anwesenden Menschenmassen aus ihrer Enttäuschung heraus sogar handgreiflich werden könnten, und sie nahm an, dass weitere Massendemonstrationen gegen das Regime folgen könnten."

 "Hatte die Niederlage Konsequenzen für die Mannschaft?"

Grosics: "Wir verbrachten den Tag unserer Ankunft in einem Trainingslager. Dort kam es zu einer interessanten Begegnung. Matyos Rakosi erschien, der erste Mann der damaligen politischen Führung. Er sagte nach einem gemeinsamen Abendessen, dass die Spieler keine politischen Konsequenzen nach der Niederlage fürchten müssen. In diesem Moment wussten wir genau, dass es sehr wohl Konsequenzen haben würde, und zwar sehr schwerwiegende."

 "Was hat sich geändert?"

Grosics: "Wir spürten die Vorteile für unser Leben, die sich aus unseren Spielen und Ergebnissen ergeben hatten, nicht mehr. Die Mannschaft war nicht mehr wie früher der Liebling der Regierung. Einige Spieler wurden nach der WM aus der Mannschaft geworfen, sie spielten gar nicht mehr. Gegen mich wurde Ende November 1954 ein 13-monatiges Staatssicherheitsverfahren in die Wege geleitet . Ich stand unter dem Verdacht der Spionage, was den Vaterlandsverrat beinhaltete. Die Spuren und die Folgen dieser 13 Monate trage ich bis heute."

"Und wie war die öffentliche Reaktion?"

Grosics: "Ich hatte über mehrere Wochen Angst, auf die Straße zu gehen. Ich sah nach der Niederlage die Vorwürfe und die Enttäuschung in den Augen der Menschen, die mir auf der Straße begegneten. Diese Niederlage hätte vor oder nach der WM stattfinden können. Dass es gerade im Finale passierte, hat uns niemand verziehen."

 "Mit den deutschen Spielern haben Sie allerdings Ihren Frieden geschlossen."

Grosics: "Ich glaube, die Freundschaft zwischen den damaligen ungarischen und deutschen Spielern kann man als die außergewöhnlichste der Welt bezeichnen. Wir trafen uns regelmäßig über Jahre und Jahrzehnte, abwechselnd in Ungarn und in Deutschland. Ich glaube, dass sich nicht nur durch den Sport Freundschaften bildeten, sondern auch die Hochachtung vor den Menschen eine Rolle spielte. Zwischen uns entwickelte sich eine solche Beziehung, die, wie ich nochmals betonen  möchte, unvorstellbar unter Nationalspielern ist."