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Teil II
"Ich habe im Fußball "alles erreicht": Der 71-jährige Horst Eckel lebt bis heute in seinem Geburtsort; den 1951er Meisterschaftsring des 1. FC Kaiserslautern hat er nie abgelegt. |
Das Land wurde von einer
nationalistischen Welle erfasst.
Schon als ihre Landeshymne nach dem Finale ertönte, schmetterten
die deutschen Zuschauer: "...von der Maas bis an die Memel"
Der
DFB-Präsident Dr. Peco Bauwens, NSDAP-Mitgliedsnummer
2103982, gab kund, die Mannschaft sei "mit der deutschen Fahne im
Herzen" auf den Gegner losgestürmt.
Als Bauwens bei der Siegerfeier im Münchner Löwenbräukeller das
"Führerprinzip"
bemühte,
stoppte der Bayerische Rundfunk die Radioübertragung. |
Horst Eckel saß beim ersten dieser
Spiele 1952 in Paris auf der Ersatzbank. Zwei Jahre später war er
Weltmeister. Was hat sich damals geändert für ihn? "Ich stand wieder
morgens um sieben bei Pfaff. Feinmechaniker für Nähmaschinen. Neun Stunden
am Tag. Wie zuvor
auch. Wir hatten acht Tage Urlaub im Jahr und mussten
unbezahlten Urlaub
nehmen, wenn wir mit der Nationalmannschaft zu Länderspielen
fuhren. Gleich nach der WM kamen Angebote aus dem Ausland. Ich hätte nach
England gehen können. 150 000 Mark Einmalzahlung und 6000 Mark im Monat.
Fritz Walter boten sie 350 000 Mark und 10 000 im Monat. Aber es ist keiner
gegangen, weil ja der Fritz abgelehnt hat. Es war die einzige Möglichkeit,
großes Geld zu verdienen.
In Kaiserslautern verdiente ich damals 320 Mark. Ich weiß, das versteht heute
niemand, dass ich nicht gewechselt habe. Aber ich hätte sogar Geld gezahlt,
um in Kaiserslautern spielen zu dürfen. Ich bin mit 17 zu Kaiserslautern
gekommen, wurde Stammspieler, zum ersten Mal Deutscher Meister mit 19 und mit
22 Weltmeister. Was will man mehr. Ich habe alles erreicht, was ein Fußballer
erreichen kann.
Die Menschen haben sich zum ersten Mal gesagt: Es kann aufwärts gehen. Die
ganze Welt hat nicht an uns geglaubt. Wir waren politisch, wirtschaftlich und
sportlich am Boden. Es war eine große Genugtuung, als krasser Außenseiter zu
sagen: Wir sind Weltmeister."
In Budapest zogen nach dem Spiel Hunderttausende enttäuschter Menschen durch
die Straßen, warfen Straßenbahnen um, schlugen Schaufenster ein,
verwüsteten
die Wohnung des Nationaltrainers Sebes. Aus der Randale
entwickelte sich
schnell die erste politische Demonstration nach Ende des Krieges.
Die Ungarn litten unter der kommunistischen Führung
von Moskaus Gnaden. Während des Regimes von "Stalins bestem Schüler", Matyas
Rakosi, von 1948 bis 1953 mussten nahezu 1,3 Millionen Ungarn vor Gericht -
mehr als jeder zehnte. Von der Geldbuße bis zur Todesstrafe wurden fast 700
000 Urteile gesprochen. Die Gefängnisse waren so überfüllt, dass
Verurteilte monatelang warten mussten, ehe sie ihre Strafe antraten. Doch das
Volk hielt still, bis zur Niederlage. Sie war das Vorspiel der Unruhen, die im
Herbst 1956 im Volksaufstand mündeten. Sowjetische Panzer
walzten
ihn nieder.
Solange die Fußballer erfolgreich waren, siegte die ganze Nation mit, hing an
den Radios, erlebte, wie die "goldene Mannschaft" am 25. November
1953 mit 6:3 die seit 90 Jahren zu Hause ungeschlagenen Engländer im
Wembley-Stadion besiegte - bis heute in Ungarn "das Spiel des
Jahrhunderts". Der Fußball hielt das Land im Zaum. In 32 Spielen ohne
Niederlage siegten die Ungarn 28-mal, mit einem Torverhältnis von 144:33. Die
"goldene Mannschaft" spielte im westlichen Ausland nie mit der
Unterstützung des Publikums, auch in der Schweiz waren außer den Spielerfrauen keine Ungarn in den Arenen - abgesehen von den Staatspolizisten,
die die Spieler bewachten.
Der kommunistische Staat kontrollierte den Fußball. Der Trainer,
Gusztav Sebes, war stellvertretender Sportminister und
stand dem Fußballverband
vor. Die Spieler Puskas, Bozsik und Grosics waren Sportsoldaten im Majorsrang.
"Wir fuhren mit dem Zug nach Hause", sagt Grosics. "Wenige
Kilometer vor Budapest mussten wir gegen Mittag plötzlich aussteigen, wurden
in ein Trainingslager gebracht und durften es den ganzen Tag nicht verlassen.
Abends kamen die höchsten Politiker - Rakosi, der Generalsekretär der
Kommunistischen Partei, auch der Innenminister und der Militärminister sowie
Leute der ungarischen Stasi. Rakosi hielt eine Rede, auch der zweite Platz sei
ein schönes Ergebnis, und dann sagte er noch: Niemand von euch soll Angst
haben, bestraft zu werden für dieses Spiel. Ich habe den Klang seiner Stimme
noch im Ohr. Als dieser Satz fiel, wusste ich, dass er genau das Gegenteil
bedeutet. Ich wusste, dass etwas Schlimmes passieren würde. Ich war oft mit
der Staatssicherheit AVH aneinandergeraten, jetzt hatte ich das Gefühl, in
Gefahr zu sein. Ich wusste, sie hatten es auf mich abgesehen. Ich behielt
Recht.
Zunächst war es die Ruhe vor dem Sturm. Dann kam der Dezember 54, die
schlimmste Zeit meines Lebens begann. Auf einmal wurde ich angeklagt wegen Landesverrats. Niemand sagte, für welches Land ich spioniert haben sollte,
ich erinnere mich, wie einer sagte: Nimm zur Kenntnis, dass andere Leute bei
bloßem Verdacht gehängt werden."
Grosics kann eine Weile nicht weitersprechen. Hat Tränen in den Augen, wendet
sich kurz ab. "Der Prozess dauerte13 Monate und wurde
schließlich aus
Mangel an Beweisen eingestellt, ich blieb aber weiter unter Bewachung. Während
des Prozesses durfte ich meine Wohnung nicht verlassen, vor der Tür stand die
Staatssicherheit. Ich musste die Nationalmannschaft verlassen, kam erst zwei
Jahre später wieder zurück, ich wurde auf Befehl der Regierung von meinem
Verein Honved Budapest strafversetzt nach Tatabanya. Mein Vater verlor seine
Stelle als Schichtleiter in einem Bergwerk. Wir alle wurden bestraft.
Es war eine schreckliche Degradierung, nach Tatabanya zu gehen. In Ungarn
sagen wir nicht: eine gute Mannschaft, eine schlechte. Wir sagen: eine große
Mannschaft, eine kleine. Honved war damals die größte Mannschaft der Welt.
Tatabanya war ein Nichts. Ich blieb bis zum Ende meiner Karriere dort. Spielte
nie wieder für Honved in Ungarn."
Dachte er an Flucht?
Teil III
Triumphfahrt: In offenen Wagen fahren die deutschen Weltmeister durch die Straßen Münchens, und Hunderttausende jubeln. |
"Nach der Niederschlagung
des Aufstands erhielt ich Ende November 56 einen Anruf
aus Wien, Emil Österreicher war am Apparat. Er war Manager von
Honved, die Mannschaft war auf Tournee in Westeuropa. Komm zu uns,
sagte er, wir brauchen einen Torwart. Eine Stunde nach meiner Ankunft
stand ich im Tor von Honved gegen FC Barcelona, wir reisten später
nach Frankreich, Österreich, Italien, Ende Januar 57 nach Brasilien.
Dort bekam ich ein Angebot. Von Flamengo Rio des Janeiro." |
Der Schlagbaum an der österreichischen Grenze senkte sich hinter mir, da sah
ich schon den Gefängniswagen. Sie hatten mich erwartet. Forderten mich auf
auszusteigen. Ich stieg nicht aus, verschloss von innen den Wagen. Sie ließen
mich hinterherfahren, zum
Staatssicherheitsgebäude, man wolle mich verhören.
Es solle drei Tage dauern. Ich weigerte mich. Der Oberbefehlshaber kam heraus,
ich konnte es kaum glauben, es war ein Freund aus Grundschultagen. Gabor. Meine
Töchter schrien die ganze Zeit vor Angst. Rund um den Wagen standen zwei-,
dreihundert Menschen. Ich fragte Gabor: Was wollt ihr von mir?
Ich sollte angeben, was ich im Ausland gemacht hatte, wen ich getroffen hatte,
warum ich zurückkam, ob ich einen Auftrag hätte. Sie schrieben ein Protokoll,
und als ich herauskam, war der Wagen leer, meine Familie weg. Ich packte einen
Soldaten: Gebt mir meine Familie wieder! Wo sind sie? Er sagte: Im Keller. Ich
wollte ihn schlagen, da sagte er: Die Mädchen mussten auf die Toilette. Er
hatte mir Angst machen wollen, einen Scherz. Ich hätte ihn beinahe
erschlagen." Grosics hält inne. "Ja, alles wäre anders
gekommen", sagt er dann, "wenn wir gewonnen hätten. Ich hätte bei
Honved bleiben können, der Prozess hätte nicht stattgefunden. Das Gefühl der
Verbitterung
wird mich immer
begleiten. Immer."
Der Stern 30.09.2003