Die Melancholie des leeren Raums
Judith Hermanns Erzähldébut
Von Roman Bucheli

Diese Prosa entfaltet mit dem ersten Satz einen unwiderstehlichen Sog. Judith Hermann, 1970 in Berlin geboren und ebenda als Journalistin und Autorin lebend, schlägt mit dem ersten Abschnitt ihres Erzähldébuts die Leser in einen unergründlichen Bann. Man muss sich diese ersten Zeilen ihres Erzählbandes «Sommerhaus, später» in voller Länge vergegenwärtigen:

Mein erster und einziger Besuch bei einem Therapeuten kostete mich das rote Korallenarmband und meinen Geliebten.

Das rote Korallenarmband kam aus Russland. Es kam, genauer gesagt, aus Petersburg, es war über hundert Jahre alt, meine Urgrossmutter hatte es ums linke Handgelenk getragen, meinen Urgrossvater hatte es ums Leben gebracht. Ist das die Geschichte, die ich erzählen will? Ich bin nicht sicher.

So beginnt die Erzählung «Rote Korallen». Nein, das ist noch keine Geschichte - und doch enthalten die wenigen Sätze alles, was eine Geschichte ausmacht: sie berichten von Leben und Tod, von Liebe und ihrem Verlust; die erregende Tiefe des Raums und der Zeit öffnet sich schlagartig; sie rufen den bitter-süssen Geschmack der Erinnerung auf die Zunge, und gefährlich funkelt darin das Rot der Korallen am Handgelenk einer Urgrossmutter. Hätte Judith Hermann nicht mehr als nur diese wenigen Zeilen geschrieben: man müsste sie bewundern für die unendliche Sparsamkeit ihrer Worte, für die kargen Sätze, die uns mit ihrer schmucklosen Syntax die asketische Kunst der Verlangsamung lehren. Aber es kommt noch weit besser.

«Ich habe zu viele Geschichten in mir, die machen mir das Leben schwer.» Der Satz liegt der Ich-Erzählerin in «Rote Korallen» auf der Zunge, als sie den Therapeuten ihres Geliebten aufsucht. Es ist ein Zuviel an fremder Geschichte: sichtbar und spürbar geworden im Korallenarmband. Es fesselt die Ich-Erzählerin an eine Geschichte, die nicht die ihre ist, die sie dennoch zu der ihren gemacht hat und nun vereitelt, dass aus ihr selber Geschichten werden. Statt die Geschichte des Korallenarmbandes und ihrer Urgrossmutter noch einmal zu erzählen, etwa dem wie ein toter Fisch im Bett liegenden Geliebten oder dem Therapeuten, zerreisst sie, gewaltsam, aber unwillentlich, das Armband - und befreit sich: ob zu eigener Geschichte, lässt die Autorin indes offen.

Denn mehr als um Geschichte(n) geht es der Autorin in ihren Erzählungen um einen Raum ausserhalb der Geschichte. Wie sich die Ich-Erzählerin in «Rote Korallen» mit einer symbolischen Handlung aus der Geschichte herausnimmt, so stehen die meisten Figuren in Judith Hermanns Erzählungen in einem stillgestellten Abseits der Zeit. Wie aus dem Nichts kommend, sind die Figuren plötzlich da; bleiben dann für Tage oder Wochen und tauchen wieder ab: spurlos die einen, einen Phantomschmerz hinterlassend die anderen. Man begegnet sich im ICE zwischen Hamburg und Berlin; einer stellt seine drei Plastictüten in den Flur und bleibt, bis man ihn zum Weitergehen auffordert. «Ich könnte einen Film machen, über uns», schlägt ein dritter vor: es wäre «ein Film darüber, dass gar nichts ist, dass es nichts mehr gibt». «Ich komme und bleibe und fahre dann wieder. Was soll da sein», sagt wiederum eine andere, mehr zu sich selbst als zu ihrem Gegenüber.

Wie ihre Figuren gelegentlich eine verräterische Lakonik pflegen, so beherrscht Judith Hermann die subtile Kunst der ersten Sätze: «Der Tag, an dem dann doch noch einmal etwas geschieht, ist der Freitag vor Ostern.» Sie schreibt nicht: Karfreitag, das wäre zu deutlich; sie erzählt auch nicht aus dem Rückblick, was dem Pensionär Hunter Tompson «dann doch noch einmal» widerfährt. Denn für Tompson ist die Zeit nur noch eine Abfolge leerer Augenblicke: jeder könnte der letzte sein, und jeder Augenblick gleicht dem vorangegangenen so sehr, dass jeder Augenblick der letzte ist. Die junge Frau, die am «Freitag vor Ostern» ihren Fuss in seinen Türspalt hält und ihn mit Fragen bedrängt, ändert daran nichts; er beschenkt sie, aber hereinlassen wird er sie nicht. Stolz ringt er den Rest an Eitelkeit in sich nieder. Er weiss - und er ist zugleich erleichtert und deprimiert darüber -, dass sie am nächsten Tag, noch «bevor es richtig hell wird», abgereist sein wird.

Es sind ephemere Geschichten, die Judith Hermann aufgezeichnet hat, mit lauter ephemeren, fast somnambulen Figuren. Zumal die jungen Frauen muss man sich mit einer seltsam kränkelnden Blässe vorstellen. Sie sind dünn und klein, rauchen wie besessen, beissen sich gelegentlich auf die Lippen, und statt zu weinen, lächeln sie verlegen. Sie wirken verletzlich; eine sieht «zittrig aus und traurig» und spricht mit weicher und kleiner Stimme; eine andere «war so unwirklich». Mögen es anämische und zerbrechliche junge Frauen sein: als literarische Figuren erhalten sie ein scharf und präzis gezeichnetes Profil. Zumal Sonja in der gleichnamigen Erzählung, der wohl schönsten und traurigsten des Bandes, geistert wie ein Gespenst durch den Text und erschüttert dennoch ein scheinbar gefestigtes Leben in seinem Innersten. Es ist unter den Figuren dieser Erzählungen die eindrücklichste: von allen am dünnsten und schweigsamsten, hinterlässt sie bei ihrem Verschwinden keine Spuren - und bleibt dennoch verstörend gegenwärtig.

«Ich habe zu viele Geschichten in mir», lässt Judith Hermann die Ich-Figur in der eröffnenden Erzählung nicht sagen, sondern bloss denken: sie erprobte den Satz, im Selbstgespräch; er klang ihr zugleich falsch und richtig. Denn genau besehen war es nur eine Geschichte, die ihr zuviel war. Auch Judith Hermanns neun Erzählungen kreisen mit grosser Virtuosität um ein einziges Thema: das Erschrecken über die melancholische Leere des Raums und der Zeit. Ihre Figuren erproben, immer aufs neue, einen Umgang damit.

In diesen Texten ist kein Wort zuviel und keines am falschen Platz. Und obwohl es hochartistische und mit analytischer Tiefenschärfe verfasste Texte sind, ist dennoch keiner Wendung, sei sie noch so kunstvoll und hintergründig in die Textur verwoben, die Anstrengung und das beharrliche Warten auf den richtigen Ton anzumerken. Zur Sorgfalt im Handwerklichen kommt die Empathie: man spürt die Verbundenheit der Autorin mit einzelnen ihrer Figuren, als hätte sie jedem Text insgeheim ein Selbstporträt eingesenkt. Sie lesen sich leicht, Judith Hermanns Erzählungen. Aber man lasse sich nicht täuschen: ihre Kunst der Verlangsamung erfordert eine Kunst des langsamen Lesens.

Judith Hermann: Sommerhaus, später. Erzählungen. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 1998. 189 S., Fr. 19.-.

Neue Zürcher Zeitung vom 6. Oktober 1998

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